Politikumfeld. Wie eine effektive Reform gelingt
Wie wird die EU-Agrarpolitik nach 2028 aussehen? Wird der – überkomplizierte – Status quo weiter verschlimmbessert? Oder ist ein völliger Neuanfang möglich und realistisch? Für Sebastian Lakner braucht es dazu drei Voraussetzungen: ein öffentlich wahrgenommenes Problem, fähige Politiker(innen) und ein Gelegenheitsfenster.
Die Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik ist eher eine Geschichte der Pfadabhängigkeiten als eine der Revolutionen: Schwerfällige bürokratische Strukturen, die teilweise für sich selbst zu arbeiten scheinen, und ein Agrarsektor, der sich mit dem permanenten Strukturwandel auseinandersetzen muss, sind besonders schwer reformierbar. In vielen EU-Staaten haben die Bauernverbände, unterstützt von einer auf dem Land grundsätzlich eher konservativen Grundhaltung, nach wie vor einen großen Einfluss auf die Politik. Es gibt somit in Europa wesentliche politische Kräfte, die gegen größere Veränderungen stehen.
Veränderungsbedarf
Gleichzeitig ist der Status quo aus Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger schlecht zu rechtfertigen. Die Agrarpolitik trägt danach nicht genug zu den großen Herausforderungen der Landwirtschaft (Strukturwandel, Bürokratie ...) sowie der Gesellschaft insgesamt (Klimaschutz, Artenvielfalt, Tierwohl ...) bei. Auch von Seiten der Wissenschaft werden seit Jahrzehnten Veränderungsbedarf angemeldet und Vorschläge gemacht, doch nur selten gelingen ambitionierte und wirksame Reformen. Liegt dies daran, dass echte Reformen besondere Bedingungen brauchen? Wenn ja: Was sind die Bedingungen, unter denen Reformen in der Vergangenheit funktioniert haben? Und inwieweit kann man vielleicht für die GAP der nächsten Förderperioden daraus lernen?
Hierzu möchte ich eine Hypothese aufstellen. Drei Faktoren müssen zusammenkommen, damit eine ambitionierte Agrarreform gelingt:
- Immer, wenn die bisherigen Instrumente die Probleme im Agrarsektor nicht mehr adressieren, besteht Reformdruck in der Agrarpolitik. Ein solcher Reformdruck sowie ein überzeugendes Reformprogramm vonseiten der EU-Kommission machen eine wirksame Reform wahrscheinlicher.
- Eine Reform erfordert eine politische Persönlichkeit, die den Bedarf für eine Reform erkennt und als politischer Unternehmer Mehrheiten dafür organisiert.
- Damit eine Reform gelingt, müssen günstige politische Umstände oder ein »Gelegenheitsfenster« vorherrschen, damit Mehrheiten in Parlament und Rat gefunden werden können. Eine solche Konstellation kommt vor allem von außen, allerdings können erfahrene Politiker solche Umstände auch befördern. Diese dritte Kategorie ist vor allem im Rückblick gut erkennbar, während es sehr schwer ist, solche Gelegenheitsfenster für die Zukunft vorherzusagen.
Untersuchen wir also diese Hypothese anhand der Agrarreformen der letzten Jahrzehnte, und versuchen wir herauszufinden, ob ab 2028 eine ambitionierte Reform oder der Erhalt des Status quo wahrscheinlicher ist.
MacSharry 1992
Das erste Beispiel einer ambitionierten Reform ist die MacSharry-Reform 1992. Die 1980er Jahre waren das Krisenjahrzehnt der GAP: Aus Produktionsüberschüssen (hervorgerufen u. a. durch Preisstützung) entstanden große Lagerbestände, die nur mithilfe hoher Subventionen auf den Weltmarkt exportiert werden konnten. Die Agrarausgaben verdreifachten sich zwischen 1980 und 1992. Sie wurden in der Öffentlichkeit zum Politikum. Handelspartner forderten einen besseren Marktzugang auf die bis dahin relativ abgeschotteten europäischen Agrarmärkte. Als solche Freihandelsgespräche (die Uruguay-Runde des GATT ab 1986) bereits fortgeschritten waren, wurde der Ire Ray MacSharry 1989 Agrarkommissar.
Weltpolitische Wende. Interner und externer Druck hatten sich über zehn Jahre angestaut, doch erst MacSharry konnte die Gelegenheit zur Reform nutzen. Die großen europäischen Exportnationen brauchten das GATT-Abkommen, um den Handel mit Industriegütern zu erleichtern, insofern waren die Interessen industriepolitisch motiviert. Und dieses Interesse nutzte MacSharry, um eine vonseiten der Wissenschaft lange geforderte Liberalisierung der GAP anzustoßen: Senkung der Interventionspreise bei Weizen um 29 % über drei Jahre, Einführung von Direktzahlungen als Ausgleich und Senkung des Außenschutzes waren die Kernpunkte seiner Reform.
Eine Mehrheit dafür konnte 1991/92 in einem Umfeld organisiert werden, in dem die politische Aufmerksamkeit insgesamt auf ganz anderen Themen lag: Der Eiserne Vorhang war gerade gefallen, die politischen Aktivitäten waren auf die Vorbereitung der Verträge von Maastricht fokussiert, und die Öffentlichkeit konzentrierte sich auf den Irak-Krieg. Die »Schwergewichte« Helmut Kohl und François Mitterrand brauchten zu dieser Zeit den Abschluss der GATT-Handelsrunde für die Industrie und unterstützten die Reform gegen den Widerstand ihrer eigenen Agrarminister, sodass diese im Rat von einer Mehrheit getragen wurde. Am Ende ermöglichte die MacSharry-Reform ein Übereinkommen mit den USA über Agrarhandelsfragen und den Abschluss der Uruguay-Runde des GATT 1994. Der erste große Schritt zur Liberalisierung der europäischen Agrarmärkte war getan. Reformdruck, Reformagenten und Gelegenheit waren zusammengekommen.
Fischler 2003
Das zweite Beispiel einer ambitionierten Reform ist mit dem Namen von Franz Fischler verbunden. Der österreichische Politiker, zuvor Kammerpräsident in Tirol und Bundeslandwirtschaftsminister, wurde 1995 EU-Agrarkommissar. Er wurde vielfach als Provinzpolitiker unterschätzt. Sein erster Reformversuch, die Agenda 2000, wurde vor allem von Frankreich unter Jacques Chirac zusammengestutzt. Fischler ertrug die Niederlage 1999 und verhandelte in das Programm der Agenda 2000 einen Zwischenbericht, die sogenannte Mid-Term-Review, die zeigen sollte, ob die Reformen ausreichten, um die Ziele des GATT-Freihandelsabkommen zu erfüllen und die Aufnahme der osteuropäischen Beitrittskandidaten von 2004 zu ermöglichen.
Ein Zwischenbericht als Reformcoup. Mit einer kleinen Arbeitsgruppe zog sich Fischler zurück und präsentierte im Juli 2002 zu aller Überraschung statt eines Zwischenberichts ein vollständiges Reformkonzept mit entkoppelten Direktzahlungen, Kappung, einer gestärkten Zweiten Säule und weiteren Marktmaßnahmen, die den Pfad der Liberalisierung vertieften. Auch er konnte noch mit den Vorgaben der GATT-Uruguay-Runde argumentieren und nutzte so den Reformbedarf. Fischler war 2002/03 in der Lage, mit den nordischen Ländern sowie mit Spanien, Portugal, Großbritannien und Deutschland eine Allianz der Reformbefürworter zu formen, sodass am Ende vor allem Chiracs Frankreich überstimmt wurde.
Ciolos 2013
Dem rumänischen Agrarkommissar Dacian Ciolos ging es zehn Jahre nach Fischler vor allem darum, die Transformation der Direktzahlungen in eine Nachhaltigkeitsprämie mit Umweltfokus voranzutreiben. Das Ergebnis gilt insgesamt als weniger gelungen. Denn das politische Umfeld war für eine ambitionierte Reform nicht günstig: Einige Probleme waren bereits 2009 abgeräumt worden (»Gesundheitscheck «). Die Entkopplung war weit vorangeschritten, nur noch ca. 5 % der Direktzahlungen waren 2014 an die Produktion gekoppelt.
Der Rat hatte auch eine Lösung für das Ende der Milchquote gefunden, und nach dem Tiefstand der Preise 2009/10 hatten sich die Preise auf vielen Agrarmärkten erholt. Von der Handelspolitik (WTO-Doha-Runde) gingen keine Impulse mehr aus. Die EU-Diplomatie war nach 2010 eher mit der Schuldenkrise und dem Erhalt Griechenlands in der Euro-Zone beschäftigt. Insofern gab es wenig externen Druck für eine Agrarreform.
Und was kommt ab 2027/28?
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber in Erinnerung an die Historie und anhand der drei Kriterien Probleme, Persönlichkeit, Gelegenheit lassen sich die Aussichten für die nächste GAP-Reform diskutieren oder sogar eingrenzen.
Zweifellos gibt es Reformbedarf. Die Direktzahlungen stehen weiterhin im Zentrum der GAP, tragen aber kaum zur Lösung der großen Herausforderungen bei. Ihre Wirksamkeit bei den Einkommenszielen ist mangelhaft, da sich die Verteilung der Zahlungen weder mit individueller Bedürftigkeit noch mit Umweltleistungen begründen lässt. Die Bedürftigkeit bemisst sich an Haushaltseinkommen, die in der Regel nicht proportional zur Größe eines Betriebes sind. Für eine Begründung mit Umweltleistungen fehlen die wirksamen Vorgaben. Gleichzeitig verzerren die Flächenprämien die Bodenmärkte und werden bei Pacht- und Kauf eingepreist. Vieles spricht dafür, die Direktzahlungen zumindest in den reichen westeuropäischen Staaten abzubauen und diese Gelder auf andere Ziele zu fokussieren.
Andererseits muss sich der Sektor auf den Klimawandel oder auch neue Schädlinge einstellen. Viele Umweltprobleme (Artenvielfalt, N-Überschüsse) sind ungelöst, und auch die Zukunft mancher ländlichen Räume ist mit oder ohne Landwirtschaft höchst unklar. wenig auf diese Herausforderungen ausgerichtet und trägt kaum zu gesellschaftlichen Zielen bei.
Eine weitere Herausforderung besteht in der Heranführung der Ukraine an die EU und perspektivisch in einem Beitritt. Übertrüge man die heutige GAP unverändert auf die Ukraine, gehen Schätzungen von zusätzlichen Kosten für den EU-Haushalt von mehr als 10 Mrd. € aus. Schon heute ist Deutschland im Agrarbereich der größte Nettozahler mit jährlich 4 Mrd. €. Mit dieser zusätzlichen Last würden einige Mitgliedstaaten von Nettoempfängern zu Nettozahlern werden.
Diese würden einer Aufnahme der Ukraine kaum zustimmen. Schon dies spricht gegen die Beibehaltung der Direktzahlungen in der
heutigen Form und erklärt, warum bereits jetzt in der Kommission und auch in einigen EU-Ländern immer mal wieder von Kappung und Degression gesprochen wird.
Innen- und außenpolitisch steht die EU zunehmend unter Druck. Sie muss sich stets neu erfinden. Die Diktatoren dieser Welt fordern seit einigen Jahren den Westen ökonomisch und politisch unverhohlen heraus und untergraben die Mechanismen der repräsentativen Demokratie. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA Anfang November ist ungewiss und damit auch die Rolle des wichtigsten Partners Europas. Die EU braucht politische und ökonomische Partner für den internationalen Handel, auch im Agrarbereich. Es
könnte daher sein, dass die globalen Bedingungen es erforderlich machen, die eigenen Politiken auf das Wesentliche zu reduzieren und Steuermittel effizienter alsbisher einzusetzen. Also nicht für Direktzahlungen an die Landwirtschaft, sondern eher für innen-, außen- und sicherheitspolitische Ziele. Europa wird sich nicht mehr nur hinter den USA verstecken können, sondern muss die geopolitischen Krisen selbst angehen.
Auch nach innen muss die EU Reformfähigkeit zeigen. Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist trotz zahlreicher Werbekampagnen bis heute nicht klar, welchen Mehrwert die EU ihnen persönlich bringt. Ein sinnvoller Einsatz von Steuermitteln wäre ein wichtiges Element für eine Antwort. Die GAP wird 2027 31 % des EU-Haushaltes beanspruchen, aber was ist der Nutzen dieses Ausgabenpostens für die Gesellschaft? Auch hier könnte die EU durch eine ambitionierte Agrarreform belastbare Antworten geben, die einerseits die großen Herausforderungen im Umwelt- und Tierbereich adressieren und andererseits den Sektor überzeugen und Perspektiven aufzeigt.