Meinung. Aufbruch sieht anders aus
Koalitionsvertrag. Anfang April haben die Spitzen von Union und SPD ihren Koalitionsvertrag unter dem Titel »Verantwortung für Deutschland« vorgestellt. Nach den Versprechen im Wahlkampf und der folgenden Kreditermächtigung über eine Billion Euro für die neue Regierung in spe wurden meine Erwartungen an einen wirklichen Kurswechsel enttäuscht. Es bestätigt sich einmal mehr, was der Soziologe Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte: »Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern«. Manchmal habe ich heute jedoch den Eindruck, Politik bestehe eher darin, die Notwendigkeit des Bohrens so lange wie möglich zu verdrängen – bis kurz vor Ladenschluss schnell zum Baumarkt gehetzt wird, um dort die leistungsstärkste und teuerste Schlagbohrmaschine zu kaufen. Zuhause angekommen öffnet man sich dann erst einmal ein Bier und freut sich darüber, jetzt bestens ausgerüstet zu sein. Theoretisch könnte man ja jederzeit mit dem Bohren anfangen. Soll heißen: Es mangelt an Mut und einem klaren Kompass für grundlegende Reformen.
Zumindest eine grundlegende Neuerung gibt es: ein Ministerium für Bürokratieabbau und Digitalisierung. Das ist ein guter Anfang, denn unser Land krankt an seiner Bürokratie. Wir spüren es tagtäglich, auch objektive Zahlen des ifo-Instituts beweisen es: Durch die überbordende Bürokratie entgehen Deutschland bis zu 146 Mrd. € an Wirtschaftsleistung – jährlich!
Nun geht Bürokratiereduzierung nur durch die Reduzierung der Bürokraten. Der Koalitionsvertrag sieht 8 % für diese Legislatur vor. Das ist viel zu wenig. Ein ambitionierteres Ziel von 25 % bis 2030 wäre nicht abwegig und braucht auch keine Kettensägen. Gute Unternehmen machen vor, wie das geht.
Auch für die Landwirtschaft fällt dieses Kapitel wenig überzeugend aus. Die Ankündigung, Agraranträge zu vereinheitlichen und Berichtspflichten zu überprüfen, ist richtig – allerdings bekannt. Ob diesmal tatsächlich substanzielle Entlastungen folgen oder ob sich – trotz neuem Ministerium – erneut alles im Klein-Klein der Verwaltung verliert? Ich bleibe skeptisch.
Anerkennung verdient das Bekenntnis zu einer zukunftsfähigen Landwirtschaft als Teil der Ernährungssicherung. Auch, dass Schwarz-Rot mit einem jährlichen Betrag von 1,5 Mrd. € kräftig in mehr Tierwohl investieren will – abgesichert durch staatliche Verträge mit 20 Jahren Bestandsschutz. Bisher ungeklärt ist allerdings, woher die Mittel dafür kommen sollen. Für die Koalitionäre zur Erinnerung: Die Borchert-Kommission hatte zur Finanzierung konkrete Vorschläge unterbreitet. Der Abbau genehmigungsrechtlicher Hürden, die praxisgerechte Anpassung des Bundesimmissionsschutzgesetzes oder die steuerliche Risikoausgleichsrücklage – der Koalitionsvertrag enthält eine Reihe richtiger Ansätze. Aber wo ist die Bohrmaschine?