Pflanzenschutzmittel-Verfügbarkeit. Mehr Tempo bei den Zulassungen?
Wenn man schon weniger Mittel einsetzen soll, müssen die verbleibenden wenigstens zuverlässig wirken und neue schnell auf den Markt kommen. Aber bei der Zulassung hakt es. Warum das so ist und was sich besser machen ließe, haben wir Martin Streloke im Interview gefragt.
Herr Streloke,im Juli hat das BVL mehr als 150 Verbesserungsvorschläge für Behörden und Politik vorgelegt. Wo hakt es bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln?
Das Zulassungsverfahren ist insgesamt konfliktträchtiger und arbeitsintensiver für Behörden und für Antragsteller weniger kalkulierbar geworden. Unter anderem fehlt ein Streitschlichtungsverfahren so wie in den EU-Verordnungen für Biozide, Tierund Humanarzneimittel. In der Pflanzenschutzzulassung bleiben Entscheidungen bei Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten oft liegen. Jeder handhabt die Angelegenheit nach eigenem Ermessen, was vor allem in Deutschland zu einer Zunahme von Gerichtsverfahren führt.
Zum Beispiel?
Erst am 25. April entschied der Europäische Gerichtshof in zwei wichtigen Urteilen: Zum einen darf ein Mitgliedstaat im zonalen Zulassungsverfahren von der Bewertung des bewertenden Mitgliedstaats abweichen, wenn neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, um ein hohes Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt zu gewährleisten. Zum anderen können nationale Behörden alle zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse zu endokrinschädlichen Eigenschaften eines Wirkstoffs berücksichtigen, um negative Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt auszuschließen.
Und das bedeutet ...?
Das zuständige Verwaltungsgericht Braunschweig entschied bislang, dass ein Mitgliedstaat, der sich der Erstzulassung in einem anderen EU-Land anschließt, durch diese weitestgehend gebunden ist. Nun kann dieser Staat bei neuen Erkenntnissen allein agieren, auch wenn der Erstzulassende anderer Ansicht ist. Die EuGH-Urteile schaffen hier einen Präzedenzfall, der viele weitere Verfahren beeinflussen könnte – und die europäische Harmonisierung gefährdet. In Deutschland nutzen Behörden solche Urteile schon als Grundlage für ihre regulatorischen Entscheidungen, und Umweltorganisationen greifen sie für Klagen auf. Sicherlich sind die Anforderungen an die Zulassung etwa bezüglich endokriner Effekte oder der Bienenproblematik gestiegen. Aber es gibt auch unterschiedliche Auffassungen darüber, sowohl zwischen als auch innerhalb der Mitgliedstaaten. Das zonale Zulassungsverfahren setzt auf Arbeitsteilung, aber die Mitgliedstaaten lösen die Dinge oft unterschiedlich. Und die Antragsteller wissen anfangs nicht genau, was eigentlich konkret einzureichen ist, was den Zulassungsprozess verzögern kann. Fakt ist, dass wir in Deutschland immer weniger Zulassungsverfahren wie geplant durchführen. Dadurch kommt es auch zu Verzögerungen in der Antragsbearbeitung. Über die letzten Jahre ist klar geworden, dass sowohl die europäischen wie nationalen Verfahren nicht hinterherkommen, weil die Systeme und Anforderungen immer komplexer geworden sind.
Das Projekt »Zulassung 2030«
Die Evaluierung von Effizienz und Effektivität der Pflanzenschutzverordnung Nr. 1107/2009 durch die EU-Kommission zeigt insbesondere Verzögerungen bei der Genehmigung von Wirkstoffen und der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf. Mehrere Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, hatten entsprechende Probleme benannt. Trotzdem entschied das EU-Parlament, die Verordnung nicht grundsätzlich aufzumachen. Um dennoch Verbesserungen im bestehenden rechtlichen Rahmen zu erzielen, wurden das Projekt »Zulassung 2030« und ein EU-Workshop gestartet, vorangetrieben vor allem vom BVL und der Pflanzenschutzmittelindustrie. Über zwei Jahre haben über 100 Experten für integrierten als auch ökologischen Landbau aus den unterschiedlichsten Institutionen zusammengearbeitet. Einige der Handlungsempfehlungen werden bereits umgesetzt, für andere fehlen derzeit die Ressourcen.
Mehr unter www.bvl.bund.de
Eine wichtige Rolle in der Diskussion spielt der »Stand von Wissenschaft und Technik«. Ist der nicht klar definiert?
Leider nein. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus Einzelstudien dienen zunehmend als Grundlage für eine vorgezogene Neubewertung von Wirkstoffen und Produkten. Um nationale Alleingänge zu vermeiden, sollten solche Erkenntnisse künftig in einem abgestimmten Verfahren mit allen Mitgliedstaaten in den Zulassungen berücksichtigt werden. Hier sollte die EU-weite Bewertung durch die EFSA Grundlage von Entscheidungen sein. Nur auf diesem Weg kann die einheitliche Verfügbarkeit wichtiger Mittel für den Pflanzenschutz in der EU erreicht werden.
Die Zahl der regulär zugelassenen Wirkmechanismen sinkt, stattdessen nehmen Notfallzulassungen immer mehr zu. Das kann doch nicht die Zukunft sein?
Das Pilzjahr 2024 hat gerade gezeigt, wie stark die Lebensmittelverfügbarkeit aus Deutschland von Notfallzulassungen abhängt – übrigens im integrierten und im biologischen Anbau gleichermaßen, wenn Sie z. B. an Kupfer denken. Vor 20 Jahren gab es ein bis zwei Notfallzulassungen pro Jahr und jeweils für einen geringen Flächenumfang. Heute sind es 80 bis 100 Anträge teilweise jeweils für
300 000 bis 400 000 Hektar. Davon stammt etwa ein Viertel aus dem Ökolandbau. Diese Zahlen könnten weiter steigen, da die Zulassungszukunft einiger »Blockbuster« auf EU-Ebene diskutiert wird. Es kann aber doch nicht sein, dass ein Notfallverfahren zur Normalität wird, denn Landwirte, Handel und Hersteller können so nicht mehr planen! Zudem zeigt sich hier eine wesentliche Schwachstelle der aktuellen Verordnung. Während Notfallzulassungen eine Abwägung zwischen Risiken insbesondere für die Umwelt und dem Schaderreger-Risiko für die Lebensmittelproduktion ermöglichen, fehlt dies in besonderen Fällen in der EU-Zulassungsverordnung für reguläre Mittelzulassungen.
Vor 20 Jahren gab es ein bis zwei Notfallzulassungen pro Jahr und jeweils für einen geringen Flächenumfang. Heute sind es 80 bis 100 Anträge teilweise jeweils für 300 000 bis 400 000 Hektar.
Im Projektbericht liest man von einer Priorisierung von Anträgen für biologische Pflanzenschutzmittel. Heißt das, es dauert es bei den chemischen dann noch länger?
Definitiv können wir keine zusätzlichen Mitarbeiter beim BVL einstellen. Allerdings wurden bisher nur wenige Anträge für biologische Mittel eingereicht. Antragsteller beschweren sich über das aufwendige Antragsverfahren, das insbesondere für kleinere Firmen eine Hürde darstellt. Das Grundproblem ist, dass die Verordnung 1107 keine getrennten Kategorien für chemisch-synthetische und biologische
Pflanzenschutzmittel vorsieht. Die Anforderungen und Entscheidungskriterien gelten für beide gleichermaßen. In den USA gibt es dafür zwei separate Gesetze, die den Behörden mehr Flexibilität ermöglichen – diese fehlt in der EU. Um unsere Aufgaben in Zukunft sachgerecht erledigen zu können, überprüfen wir unsere Prozesse fortlaufend.
Werden neue Techniken wie die Spot-Applikation künftig in der Zulassung berücksichtigt?
Ja, aber es ist noch unklar, wie genau. Dazu gibt es viele nationale Forschungsprojekte und auch eine Arbeitsgruppe auf europäischer Ebene. Wie sollen wir Spot-Anwendungen mit Herbiziden in den Risikobewertungen berücksichtigen? Macht das dann z. B. 23, 37 oder 84 % an Expositionsminderung aus? Wie bei den Abdriftuntersuchungen früher bräuchte es konkrete Messungen und umfangreiche Daten, Standardanwendungsszenarien müssen festgelegt werden. Das sind schwierige Herausforderungen, aber die Entwicklung ist auf einem guten Weg.
Für die Risikobewertung sind auch digitale Anwendungs- und Monitoringdaten in der Diskussion.
Bisher erfolgt die Bewertung eher theoretisch. Anwendungsdaten aus der Praxis wären hilfreich, um die tatsächlichen Auswirkungen in der Natur besser zu verstehen. Ein seriöses Monitoring wäre zwar wünschenswert, ist aber sehr aufwendig. Aktuell arbeiten wir an einem Luft-Monitoring-Projekt zur Untersuchung der Verflüchtigung, was allein bei der Probenahme und Analyse enormen Personal- und Kostenaufwand erfordert. Es gibt Fälle, in denen NGOs mit wenigen, selektiven Messungen arbeiten und diese zweifelhaften Ergebnisse gezielt kommunizieren. Es wäre wichtig, dem fundierte Daten entgegenzusetzen.
Was sagen Sie zum »Zukunftsprogramm Pflanzenschutz«? Darin kommt ja auch Ihr Projekt zur Sprache.
Wir freuen uns natürlich über die Beachtung des Projektes auf der politischen Ebene. Das BVL ist an dem Programm direkt allerdings nur über die zu meldenden Verkaufszahlen von Pflanzenschutzmitteln beteiligt.
Das Gespräch führte Anne Ehnts-Gerdes