SUR-Ablehnung. Unerwartet, aber verdient
Irgendwie würde man sich einigen: Das war trotz aller Gegensätze die Mehrheitsmeinung im EU-Parlament. Eine radikale Ablehnung fand man dort nur ganz links oder ganz rechts. Dass die Pflanzenschutz-Verordnung nun krachend gescheitert ist, hat gleichwohl eine Vorgeschichte. Und ganz "durch" ist das Thema damit auch nicht.
So einig waren sich die für die Pflanzenschutz-Verordnung maßgeblichen Abgeordneten des Europäischen Parlamentes noch nie: Die SUR ist tot. Dabei waren sie noch kurz vor der Abstimmung am 22. November durchaus davon überzeugt, dass es (wenn auch vielleicht mit knapper Mehrheit) eine SUR geben würde. Das Abstimmungsergebnis – 299 Nein, 207 Ja, 121 Enthaltungen – hat sie dann ziemlich überrascht.
Dafür gibt es wie so oft Anlass und Ursachen. Der Anlass lässt sich unmittelbar aus dem Verfahrensablauf noch kurz vor der Abstimmung herleiten. Die Ursachen für dieses Ergebnis liegen allerdings tiefer. Sie haben mit der "Geschichte" der SUR, die mit einer einfach schlecht gemachten Vorlage der EU-Kommission begann, ebenso zu tun wie mit sehr unterschiedlichen "Zugängen" zum Thema (Gesundheit, Umwelt, Landwirtschaft bzw. Versorgungssicherheit), die unterschiedliche Zuständigkeiten nach sich zogen.
Was war der Anlass des Scheiterns? Das unmittelbar nach der Abstimmung einsetzende "blame game", also das Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen, taugt kaum als Erklärung, sondern ist eher bereits als Wahlkampf für den Mai 2024 zu verstehen. "Wir suchten nach Kompromissen, aber Grün-Links puschte die Extreme", so der österreichische Abgeordnete Robert Bernhuber von der konservativen EVP. "Ein schwarzer Tag für die Umwelt und Bäuerinnen und Bauern" , meinte dagegen die ebenfalls österreichische Grüne Sarah Wiener, die SUR-Berichterstatterin. Und bestätigt indirekt ihren Kollegen und Landsmann, indem sie ergänzte: "Die starke Lobby der Pestizidindustrie und ihre konservativ-rechte Vertretung im Parlament feiert heute einen Sieg".
Tatsächlich war‘s etwas komplizierter. Denn vor der eigentlichen Abstimmung wurde über fast 700 Änderungsanträge befunden. Viele von ihnen waren der Versuch, die SUR von der Vorlage des zuständigen Umweltausschusses mehr in Richtung der Vorschläge des Agrarausschusses zu drehen. Diese hätten viele Knackpunkte für die Landwirte deutlich entschärft. Normalerweise werden strittige Fragen schon in den Ausschüssen geklärt und nicht im Plenum. Als sich aber während des Abstimmungsprozesses eine Richtung abzeichnete, die den Konservativen eine Zustimmung ermöglicht hätte, lehnten wiederum die Grünen ab bzw. wollten eine Rücküberweisung an den zuständigen Umweltausschuss. Dem folgte die Mehrheit der Abgeordneten jedoch nicht. Wenn aus der SUR noch etwas werden soll, müsste die EU-Kommission eine neue Vorlage schreiben, die neu im Parlament verhandelt wird. Das wird die gegenwärtige Kommission, die nach den Parlamentswahlen im Mai Ende 2024 neu aufgestellt wird, kaum mehr tun. Die "alte" Vorlage muss formal noch den Rat der EU-Länder passieren. Dort hatte sich großer Widerstand aufgebaut, aber diese Entscheidung spielt nun keine Rolle mehr.
Eigentlich lief die Geschichte von Anfang an schief. Da war der Versuch des damaligen Kommissions-Vizepräsidenten Frans Timmermans, im Rahmen des "Green Deal" einen starken Akzent zu setzen. Möglicherweise auch die Enttäuschung darüber, dass die vorausgegangene und jetzt nach wie vor gültige Pflanzenschutz-Direktive von 2009, in der z.B. der Integrierte Pflanzenschutz verankert ist, von den EU-Ländern sehr unterschiedlich umgesetzt worden war. Weil der chemische Pflanzenschutz (auch) etwas mit der Gesundheit von Mensch und Tier zu tun hat, landete die Zuständigkeit in der Kommission bei der Generaldirektion Gesundheit. Die war aber zunächst kaum in der Lage, die Aspekte Umwelt und Landwirtschaft fachlich sauber zu bearbeiten. Wahrscheinlich haben ihre Beamten gar nicht gewusst, welch unterschiedliche Folgen ein Pflanzenschutz-Verbot in den "Schutzgebieten" der einzelnen EU-Länder haben kann.
Im Parlament landete die SUR im Umweltausschuss. Dort versuchte Sarah Wiener zwar, den Knackpunkt der sensiblen Gebiete durch "Überweisung" an die EU-Länder mehrheitsfähig zu machen, aber auch das kam nicht immer gut an. Hätte es in der föderalen Struktur Deutschlands doch in der Entscheidung der Bundesländer gelegen, wo Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden dürfen und wo nicht. Der Agrarausschuss unter seinem deutschen EVP-Vorsitzenden Norbert Lins kam mit seinen Vorstellungen nicht wirklich zum Zuge. Lins hat es kurz vor der Abstimmung Journalisten gegenüber sehr schön ausgedrückt: Das Verhältnis von Umwelt zu Landwirtschaft in den Ausschüssen von 90 : 10% sei ein Fehler gewesen. Und der Umweltausschuss sei nicht in der Lage gewesen, die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu reflektieren.
In der (sehr mäßig besuchten) Plenardebatte der SUR am 21. November zeigte sich der unterschiedliche "Zugang" zur SUR denn auch sehr deutlich. Pflanzenschutzmittel als "Gift", als Zerstörer unseres Planeten auf der einen Seite, als notwendige Voraussetzung für Ernährungssouveränität auf die anderen. Abgeordnete aus Ostmitteleuropa "ritten" gern das Argument, man könne doch an ihre oft extensiv wirtschaftenden Bauern nicht die gleichen Reduktionsmaßstäbe anlegen wie an (zum Beispiel) niederländische Gemüsebauern. In dieser Debatte spiegelten sich viele Fragen und Ängste, die alle tatsächlich vorgenommenen Nachbesserungen offenbar nicht ausräumen konnten. Am Ende waren wohl sie es, die zur großen Zahl der Ablehnungen und Enthaltungen geführt haben.